„Ich höre gar nichts von dir. Wenn ich dich nicht zwischendurch mit meinen Geschichten belagern würden, befürchte ich, wir hätten gar keinen Kontakt von dir aus.“ Diese Sätze erreichten mich via WhatsApp heute morgen. Sie stammten von einer sehr lieben Freundin, an die ich fast täglich denke und die mir sehr wichtig ist. Wie kommt sie nur auf die Idee? Sätze wie diese hätten mich früher in eine defensive Haltung gebracht und ich wäre ärgerlich geworden, hätte Schuldgefühle bekommen, mich verteidigt und ihre Sichtweise für absurd erklärt.
**Wir nehmen unsere Annahmen für Tatsachen.**
Das war zu einer Zeit, als ich selbst auf solche oder ähnliche Weise kommunizierte, eine Zeit, in der ich dachte, das das, was ich aus dem Verhalten meiner Mitmenschen schloß, die Wahrheit war. Ich erinnere mich gut, wie oft ich mit meinem damaligen Freund vergebliche Diskussionen führte, in denen ich vermeintlich genau wusste, wie er dachte und fühlte und ihm deshalb Vorwürfe machte. Es war eine Zeit, in der ich den Großteil des Tages damit verbrachte, das Verhalten anderer zu analysieren, zu interpretieren und auf mich zu beziehen. Dabei kam selten etwas für mich positives und für den anderen schmeichelhaftes heraus, ich neigte dazu, das Schlimmste anzunehmen und fühlte mich häufig zurückgewiesen und ungeliebt. Es war keine sehr glückliche Weise, mein Leben zu verbringen.
**Wir spielen Spielchen, um unsere Verletzlichkeit zu verbergen.**
Meine Angst abgewiesen zu werden war ebenso groß wie unbewusst und führte dazu, dass ich ständig subtile Tests durchführte, ob ich anderen wichtig war oder nicht. Ich zog mich zurück, in der Hoffnung, dass jemand es bemerken und nachkommen würde. Ich hörte auf zu sprechen, um aufgefordert zu werden, weiter zu erzählen. Ich rief nicht an, um den anderen zum ersten Schritt zu bewegen. Ich sagte, ich hätte keine Zeit, um zu hören, dass der andere sein Bedauern ausdrückte. Und egal, wie die Reaktion des anderen war, sie machte mich nie wirklich zufrieden. Fiel sie nicht aus wie erwartet, stürzte ich in ein Loch aus Selbstzweifeln, Sehnsucht und Selbstmitleid und der andere war beim Test durchgefallen. Reagierte jemand jedoch wie gewünscht, so war die Beruhigung, die mir dies verschaffte nur von sehr kurze Dauer, und bald musste ich den nächsten Test anlegen.
**Hypothesen überprüfen**
Als ich dann eine Beziehung mit einem neuen Partner einging, wollte ich es anders machen. Bei einem unserer ersten Treffen vereinbarten wir, dass wir auf solche „Spiele“ verzichten und ehrlich sagen wollten, was uns auf dem Herzen lag. Dies gab mir so viel Sicherheit, dass ich begann, meine Zweifel und Ängste auszudrücken. Ich begann meine Annahmen über meinen Partner und seine Motive zu hinterfragen, indem ich ganz konkrete Fragen stellte, z. B. „Ich habe gerade das Gefühl, dass du lieber nicht bei mir wärst. Stimmt das?“ Und dann darauf vertraute, dass er mir seine Wahrheit sagte. Dabei wollte ich nicht beruhigt werden – hatte ich doch die Erfahrung gemacht, dass Beruhigung nicht lange anhielt – sondern wirklich meine Wahrnehmung überprüfen. Und sehr oft war diese Wahrnehmung schlicht und einfach falsch, sozusagen eine „Unwahrnehmung“, die aus meinen eigenen Ängsten und Interpretationen stammte.
**Wörtliches Zuhören**
Dies zu erkennen machte mich zunehmend gelassener, ich lernte, nicht mehr auf die vermeintlichen Botschaften von Aussagen zu reagieren, sondern auf das tatsächlich Gesagte, nicht mehr meine Hypothesen als Fakten anzunehmen und darauf zu reagieren, sondern im Zweifelsfall detailliert nachzufragen, wie etwas gemeint war. Verfeinert hat sich das noch durch eine Übung, die wir mit Byron Katie gemacht haben: Wörtliches Zuhören. Dabei geht es darum, wirklich zu hören, was gesagt wird, und das gesagte genau zu wiederholen. Schon bei einem einfachen dreiteiligen Satz a la: „Ich habe das Fenster geöffnet, weil es geregnet hat, und die frische Luft hat mir das Gesicht gekühlt“ scheitern die meisten am fehlerfreien Wiederholen. Das hatte einen echten AHA-Effekt in mir. Ich höre schon durch meinen Filter! Meine Wahrnehmung ist schon durch meine Erfahrungen eingefärbt. Gibt es überhaupt Objektivität?
**Bedürfnisse erkennen**
Diese Erkenntnisse und jahrelange Übung haben mich nun sehr vorsichtig gemacht, was Kommunikation betrifft. Nachrichten, wie die eingangs zitierte klingen erstmal wie eine Unterstellung, gegen die ich mich automatisch verwehren will. Doch sind sie nur Ausgeburten der Konstrukte, die die individuelle Wahrnehmung beeinflussen. Nichts weiter. Meine Freundin glaubte das in dem Moment wirklich und agierte aus diesem Glauben heraus. Sie ist total unschuldig. Und dagegen muss ich nicht ankämpfen. Statt dessen kann ich hinter dem vermeintlichen Vorwurf etwas anderes sehen: ihr Bedürfnis nach Kontakt mit mir. Aus dieser Sichtweise heraus war mein Herz offen für sie und ich konnte ihr ganz fröhlich antworten, dass ich mich über einen Besuch freuen würde.